Eine besondere Tonspur: Victor Sickingers Reisefilme

Ein Amerikaner in Deutschland, eine Reise in ein Nachkriegsland, das mit dem Wirtschaftswunder überrascht, ein Stummfilm, der nicht stumm ist. Viele Überraschungen und warum eine Kiste voller Karteikarten besonders spannend sein kann. Wir stellen einen weiteren Schatz aus der Landesfilmsammlung vor.
Werbeprospekt von Victor Sickinger zu seinen Reisefilmen

Ein Stummfilm, der nicht stumm ist

Die Mehrheit der Filme in der Landesfilmsammlung zeigen keine aufgebrachte Tonspur. Man könnte sie als Stummfilme bezeichnen. Aber mitunter trifft dies gar nicht zu. Nicht zu selten wird mit der Filmrolle auch eine Tonspule oder eine Audiokassette abgegeben, die parallel abgespielt wurde. Bei den familiären oder cluborganisierten Kinoabenden wurden dann aufwendige Konstruktionen mit Kassettenrecordern, Bandgeräten oder Plattenspielern aufgebaut, um dem Film eine Klangkulisse zu geben. Die Kunst lag hier in der Synchronisierung des Projektors mit dem Tonabspielgerät. Und selbst wenn dies nicht zur Verfügung stand, blieb eine Filmpräsentation selten geräuschlos. Vorführende und Publikum kommentierten und erzählten dann in die Stille einer Projektion hinein. Von solchen privaten oder öffentlichen „Live-Vertonungen“ gibt es aber keine Aufzeichnungen. Mit einer Ausnahme…

Ein Schuhkarton mit Überraschungen

2015 wurden der Landesfilmsammlung vier 16mm Reisefilme des Amerikaners Victor Sickinger übergeben. Sie tragen die Titel: „Switzerland“, „Austria“, „Belgium and Holland“, und „Germany – Old and New“. Gedreht hat Victor Sickinger diese Filme in den 1950er und 1960er Jahren. Sie waren nicht für das private Vergnügen gedacht, sondern für öffentliche Aufführungen in seiner Heimat vor einem zahlenden Publikum. Diese Aufnahmen hätten wir in der Landesfilmsammlung schnell als Stummfilme in der Datenbank verzeichnet. Aber zusätzlich zu den Filmdosen wurde ein Schuhkarton voller kleiner Schachteln abgegeben, in denen sich sorgsam auf einer Maschine getippte Karteikarten befanden.

Auf den Karten findet sich der Text, den Victor Sickinger gesprochen haben muss, während die von ihm gedrehten Aufnahmen aus dem Europa der Nachkriegszeit über die Leinwand flimmerten. Es sind aber nicht nur seine vorgetragenen Worte zu lesen, sondern auch Regieanweisungen sowie Hinweise für das Timing.

Leider offenbaren die Karten auch noch, dass Sickinger zusätzlich Töne und Musiken abgespielt haben muss: „Many of the tape recordings you will hear are authentic. Made at the time of the filming.“ Von diesen Tonbändern sind leider keine mehr erhalten. Aber zumindest wissen wir, dass er auch für eine umfangreiche Geräuschkulisse gesorgt hat.

Victor Sickinger, der Reisefilmer

Victor Sickinger wurde am 15. September 1903 in Chicago, Illinois geboren. Die Wurzeln seiner Familie liegen in Deutschland, genauer gesagt im Schwarzwald, von wo sein Vater Hugo Sickinger nach Amerika ausgewandert war. Nach Aussagen seiner Werbeprospekte hatte Viktor Sickinger von seinen Eltern Deutsch gelernt und sprach es angeblich fließend. In der Volkszählung von 1940 gab er als Beruf Elektriker an, 1950 dann Handelsvertreter für elektrische Geräte. Zusätzlich arbeitete er als Pressefotograf für verschiedene Zeitungen u.a. Herald-Examiner, die Chicago Tribune sowie für AP News Service und Pathé.

Am 07. Juni 1950 verließ er auf einem Schiff zusammen mit seinem 80jährigen Vater und einer 16mm Kamera für zwei Monate Amerika in Richtung Europa. Auf dieser Reise entstand bereits eine kurze Aufnahme mit dem Vater und dem Onkel vor einem alten Schwarzwaldhaus. Die Aufnahmen für den Film „Germany – Old and New“ drehte er vermutlich erst 1955. Dafür fuhr er zusammen mit seiner Frau Ethel für fünf Monate nach Europa und filmte einmal längs durch Deutschland. Vermutlich sind auf dieser Reise auch die beiden Filme über Österreich und die Schweiz entstanden.

Schon im darauffolgenden Jahr präsentierte er am 22. Februar 1956 im UCLA Royce den Deutschland Film vor einem (der Zeitung nach) begeistertem Publikum. Besonders erstaunt waren die Zuschauer*innen darüber, wie schnell sich das zerstörte Deutschland in ein Wirtschaftswunder-Land entwickelt hatte. Auf den Fortschritt legt Sickinger einen Schwerpunkt, aber auch auf die Feste sowie historische Plätze und Schlösser.
Noch bis in die 1960er Jahre reiste er mit seinen Filmen durch die Staaten. Eine weitere Reise für den Film „Belgium and Holland“ beendete er zusammen mit seiner Frau im November 1961. Dafür finden sich Einreisebelege. Gezeigt hat er diesen letzten europäischen Reisefilm ebenfalls noch in den 1960er Jahren. Wann er allerdings aufhörte, seine Filme vor Publikum zu präsentieren, ließ sich noch nicht herausfinden.

Victor Sickinger verstarb am 15. Februar 1994 in Santa Barbara, Kalifornien.

Germany – Old and New:
Color Motion Picture with Narration and Music

Victor Sickinger reist mit seinem Publikum durch das Nachkriegsdeutschland der späten 1950er Jahre und zeichnet dabei ein bemerkenswert positives Bild. Er zeigt in seinem Reisefilm keine Aufnahmen, die an den erst vor zehn Jahren beendeten Krieg denken lassen. Keine Ruinen oder Zerstörungen, nur schöne Aufnahmen historisch beeindruckender Orte, klassisches Handwerk und das Wirtschaftswunder. Ein einziges Mal verweist er auf die Präsenz des amerikanischen Heeres. Ansonsten fokussiert sich der Blick auf die Aufbaumaßnahmen der Deutschen und die Autoindustrie. Verständlicherweise mit Hinweis auf die Finanzhilfe aus dem Marschallplan. Die Bilder und Kommentare sind unkritisch und begeistert.

Guten Nabben mina Domen unt Hearen, velcommen in Dutchland.
Good evening, ladies & gentleman welcome to Germany.

Weiter erklärte er dann seinem Publikum: „The film is in two parts. In the first half we will start in the northern part & work our way south over the Autobahns where we will visit the cities & see the new Germany. In the 2nd half we will travel in the central part & the southern part of the country through the Schwarzwald or Black Forest.

Sickinger startet seine Deutschland-Tour in Hamburg. Von dort geht es weiter nach Bremen über die Autobahn nach Hannover, durch das Ruhrtal nach Köln, den Rhein entlang von Koblenz an der Lorelei vorbei nach Bonn, wieder auf die Autobahn nach Frankfurt und dann per Flugzeug nach Berlin, – „the most discussed city.

Nach Berlin folgen die VW-Werke in Wolfsburg und das für seine Dackel berühmte Gergweis, weiter Richtung München mit einem Stopp im Flüchtlingsschloss Kalling Castle. Für München lässt er sich Zeit und zeigt seinem Publikum das BMW-Werk und natürlich auch das Oktoberfest. Er kommt zu dem Ergebnis: „Germany is a prosperous Happy Land that retains much of its old charm.

Eine Filmreise in die eigene Familiengeschichte

Schließlich – das darf für Amerikaner nicht fehlen – zeigt er das romantische Heidelberg. Wieder auf der Autobahn wird auch in Stuttgart Halt gemacht und der Fernsehturm besucht. Es folgen Berchtesgaden an der österreichischen Grenze, Passau („Called one of the 7 most beautiful cities in the world.“), Mittenwald, Garmisch, die Schlösser Ludwigs II., bis er schließlich in seiner Familienheimat dem Schwarzwald landet, wo er die Aufnahmen mit seinem Vater von 1950 eingeschnitten hat. Zum Abschluss kommen Freiburg und dann noch einmal Bayern mit Dinkelsbühl.

Sickinger verpackt in 82 Minuten eine spannende Tour entlang der bekanntesten Sehenswürdigkeiten von Deutschland, aber er hatte auch ein Auge für die schönen kleinen Details. Zwischen den Denkmälern und eindrucksvollen Gebäuden, Fabriken, Autos und den berühmten deutschen Autobahnen, finden sich auch Aufnahmen von Kindern beim Rodeln, Begegnungen im Park und einladende Schwenks über die Landschaft. Auch das klassische Handwerk ist ihm wichtig. Ausgiebig präsentiert er die Herstellung von Kuckucksuhren im Schwarzwald sowie Aufnahmen von Instrumentenbauern und Töpferkunst aus Bayern … Auf jeden Fall war Deutschland offensichtlich eine Reise wert. Sickingers Begeisterung für das Land ist in den Bildern zu sehen und im Text zu lesen, nur schade, dass man nicht auch seine Stimme hören kann.